Ausgerechnet in Jena veränderten um 1800 junge Dichter und Philosophen mit ihren unkonventionellen Ideen den Blick auf die Welt. Hier trafen sie alle zusammen: Fichte, die Gebrüder Schlegel, Caroline Schlegel-Schelling, Novalis, die Humboldts, Schelling … und nicht zu vergessen Schiller und Goethe. Die in London lebende bekannte Autorin Andrea Wulf rückte Jena mit ihrem Bestseller „Fabelhafte Rebellen“ erneut ins internationale Rampenlicht. Wie war denn das damals mit den Frühromantikern? Im Gespräch mit Max Pommer, dem Leiter des Jenaer Romantikerhauses, gibt Andrea Wulf Einblick in ihre Spurensuche.
Frau Wulf, wie sind Sie denn dazu gekommen, ausgerechnet über die Jenaer Frühromantik zu schreiben. Auf der Straße liegt das Thema ja nicht.
Eigentlich nicht, aber in meinem Falle schon, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Als ich meine Recherche gemacht habe für „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ war ich in Jena. Während der Recherche bin ich von einer Ecke zur anderen gelaufen und habe dabei überall die Gedenktafeln mit Namen und Lebensdaten an den Häusern gesehen. Dann hab ich erst begriffen, dass diese Personen alle genau zur selben Zeit hier waren. Das hat doch sehr meine Neugier gereizt und ich hab noch mehr nach den weißen Tafeln geguckt. Man kann schon sagen, dass diese Namenstafeln stark an der Buchidee beteiligt waren.
Im Romantikerhaus haben wir seit Erscheinen des Buches viel mehr Interesse an der Jenaer Frühromantik und auch mehr internationale Besucher erlebt. Wie erklären Sie das? Die meisten wissen doch kaum, wo Jena liegt oder sie haben höchstens mal von Zeiss gehört.
Also, ich wollte ja nicht die Geschichte von Jena schreiben, sondern ich wollte verstehen, warum wir heute so sind, wie wir sind. Warum sind wir eine solche ich-bezogene Gesellschaft? Woher kommt das alles? Die Werke des Jena-Kreises sind damals international gelesen worden und waren bekannt. Die Vorlesungen von August Wilhelm Schlegel über Shakespeare und über Kunst, vor allem über die dramatische Kunst, haben sich in England super verkauft. Im Grunde genommen haben Schlegels Vorlesungen Shakespeare in England wieder berühmt gemacht. Und das interessiert natürlich die Engländer und Amerikaner und sie sagen –
oh, dieses kleine Städtchen, das will ich jetzt aber mal sehen.
Ich weiß natürlich, dass in Jena Zeiss wichtig ist, und die Wissenschaften und auch Ernst Haeckel gehören dazu. Aber vom Berühmtheitsgrad, also vom Wiedererkennungsgrad der Namen, würde ich sagen, dass die Frühromantiker die ganz Berühmten in Jena waren. Ich war wirklich geschockt, wie wenig die Romantik in Jena gefeiert wird.
Unter Romantik verstehen die meisten Menschen heute etwas anderes, eher eine romantische Stimmung. Was hat das mit den Frühromantikern zu tun?
Wenn man Leute fragt, was assoziiert ihr mit der Romantik, dann hört man die unterschiedlichsten Antworten – von Candle-Light-Dinner bis zu den Bildern von Caspar David Friedrich. Die Romantiker werden oft so dargestellt, als würden sie nur das Irrationale feiern. Bei der Frühromantik ist es genau das Gegenteil. Die feiern die Vorstellungskraft, aber genauso auch die Wissenschaft. Also zu romantisieren heißt, die Kunst und die Wissenschaft zusammenzubringen. Goethe, Novalis, beide waren Dichter und Wissenschaftler. Alexander von Humboldt, ein Wissenschaftler, der wie ein Dichter schrieb. Ich glaube, die Romantik wird wirklich oft falsch verstanden.
Wie war es damals möglich, dass sich diese rebellische Szene der Frühromantik gerade in Jena entwickelt hat?
Ja, warum Jena? Erstmal, warum Deutschland? Weil Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts keine vereinigte Nation war, sondern dieser bunte Flickenteppich aus vielen verschiedenen Ländern. Und der Vorteil dieser Zersplitterung war, dass zum Beispiel die Zensur schwerer durchsetzbar war, weil alle Staaten ihr eigenes Regelwerk hatten. Und dann gab es in Jena diese merkwürdige Verfassung der Universität, die im Grunde genommen von vier verschiedenen sächsischen Herzögen kontrolliert wurde, von denen sich aber keiner so richtig kümmerte. Jeder meinte, ach, das macht schon der andere. Dadurch hatten die Professoren relativ viel Freiheit zu unterrichten, was sie wollten. Das wiederum zog diejenigen an, die Ärger mit den Regierungen in anderen Staaten hatten – wie zum Beispiel Schiller, der nach der Veröffentlichung von “Die Räuber” verhaftet wurde.
Schiller war wie ein Magnet für die jüngere Generation.
Novalis und Hölderlin sind zum Beispiel wegen Schiller nach Jena zum Studieren gekommen. Das waren Superstars. Dadurch entstand diese self-fulfilling prophecy. Also je mehr freigeistige Menschen da sind, desto mehr ziehen sie andere freigeistige Menschen an. Und irgendwann kommt dieser Tipping Point, an dem man weiß, das ist jetzt der Platz, wo man Dinge anders machen kann.
Sie fangen in dem Buch sehr schön diesen Spirit ein, den man heute noch hat, zum Beispiel den Weg in die Stadt, wenn man von Weimar kommt. Goethe reitet ja oft nach Jena.
Ja, das ist der alte Weg gewesen. Und es wird immer wieder das letzte Stück beschrieben, wo es ein bisschen steiler wird, das war die Stelle, wo auch Kutschen überfallen worden sind. Da musste man ein bisschen Angst haben. Das gehört alles für mich dazu, weil ich versuche, den Leser mit reinzunehmen in die Stadt. Und das ist dann kombiniert mit Quellen von Leuten, die Jena besucht haben. Die Studenten haben auch im 18. Jahrhundert nach Hause geschrieben, genau wie heute. Das bringt die Dreidimensionalität des Ortes.
Haben Sie einen Tipp für Jena-Besucher, an welchen Orten der Geist der „Rebellen“ noch vorhanden ist oder wo man ihn spüren kann?
Besonders hier im Romantikerhaus, wo Fichte wohnte, wo die Scheiben eingeworfen wurden. Das ist einer der Plätze, der noch besteht und in dem wirklich was passiert ist. Im Anatomieturm haben Goethe und Alexander von Humboldt Frösche seziert. Das kann man sich noch vorstellen. Auch am Marktplatz kann man das damalige Jena spüren. Da sind natürlich ein paar neue Häuser dazwischen, aber so ein Gefühl, finde ich, kann man schon kriegen. Und auch Schillers Gartenhäuschen war ganz wichtig für diese Zeit, bevor sie sich alle zerstritten haben – da saßen sie gemeinsam im Garten und diskutierten. Deshalb mache ich diese Reisen auch immer, da ist man den Charakteren in irgendeiner Art und Weise näher, als wenn ich nur zu Hause an meinem Schreibtisch sitze.
Gibt es eine Person aus dem Romantikerkreis, die Sie besonders elektrisiert hat?
Zunächst konnte ich gar nicht glauben, dass das Who is Who der deutschen Dichter und Denker zur selben Zeit in diesem klitzekleinen Städtchen hier war. Im Endeffekt war es dann Caroline Schlegel, die Frau von August Wilhelm Schlegel, die mich sehr beeindruckt hat. Caroline hat sich in mein Buch eigentlich selber reingeschrieben, als ich ihre Briefe gelesen habe und Briefe, die Caroline erwähnen. Dabei wurde mir immer klarer, wie wichtig Caroline intellektuell für diese Gruppe war, aber auch wie unkonventionell und gebildet sie war. Und dieser unglaubliche Drang nach Unabhängigkeit, sich nicht drum zu scheren, was die Gesellschaft von ihr erwartet zu dieser Zeit. Das war für mich die große Überraschung. Das ist auch das erste Mal in meiner ganzen Karriere, dass ich über eine Frau geschrieben habe. Ich werde immer wieder gefragt, warum ich nur über Männer schreibe. Aber mir geht es nicht um das Geschlecht, sondern ich möchte über interessante Personen schreiben. Und das Problem ist, dass viele Frauen natürlich ganz interessant waren, aber nicht berühmt genug, dass ihre Briefe aufbewahrt wurden. Und die Art und Weise, wie ich Bücher schreibe, dafür brauche ich Briefe, persönliche Briefe. Sonst kann ich diese Personen nicht zum Leben erwecken. Es hat unheimlich viel Spaß gemacht, die Briefe von Caroline zu lesen.